Buch

Leseprobe
"Texte und Kontexte. Ein Lesebuch"


Aus der Besprechung des Romans „Der Gnom. Lichtenberg-Roman“ von Henning Boëtius

Immer wieder geht es um das Dilemma der Entscheidungen; sich nicht festlegen zu können oder zu wollen, ist das zentrale Verhaltensmuster Lichtenbergs, das ihm, wenn nicht zum Verhängnis, so aber doch zum strukturellen Unglück geworden ist. Einerseits zuviel von allem, andererseits alles nur halb. So sieht seine Lebensbilanz aus, wenn er von sich sagt, er habe ein Leben voller Halbheiten geführt. Wenn er ehrlich zu sich war, mußte er eingestehen, daß er sich ein Leben aus Halbheiten aufgebaut hatte wie eine unzulängliche Versuchsanordnung in seinem physikalischen Kabinett. Er war halb Schriftsteller, halb Physiker, er war halb verheiratet und halb Vater. Er war halb krank und halb gesund. Auch sein Ruhm war nicht ohne Halbheiten. Auf die Spitze des Selbstzweifels getrieben, heißt es, alles wirkte so, als sei er ein genialer Kopist seiner selbst. Das Original schien verloren.
Radikaler kann man sich die kritische Bilanzierung eines Gelehrtenlebens kaum vorstellen.
Und das, obwohl er doch so vieles geleistet und geschaffen und gedacht und geschrieben hat, allen voran auch seine implizite Pädagogik, in der er Witz und Wahrheit zusammenbringen wollte:

Auch er wollte die Menschen erziehen, aber möglichst so, daß sie es kaum bemerkten. Und er wollte ebenfalls Täuschung und Lüge bekämpfen, indem er sie enthüllte. Doch sollten die Betroffenen dabei lachen können. Das würde sie vielleicht am ehesten bekehren.


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